…eine Reise in den Kaukasus

Heute etwas für Gruselfreunde. Seit Tagen ist mir kalt. Warme Pullis helfen nicht viel, das Winterwetter zwingt den Körper in die Defensive. Es braucht ein paar Gedanken an einen Sommerurlaub, der lange her ist.

Auf geht’s auf dem Schiff durch den Kaukasus. Es ist ein sehr warmer Juni im Jahr 1907. Auf der Kura bestaune ich kleine Högel und hohe Berge. Man fühlt sich hier klein, die Natur ist gigantisch.

Am Horizont erscheint Tiflis, der warme Ort. Es ist brutal heiß heute, mehr als 30 Grad. Ich steige vom Schiff und gehe direkt Richtung Zentrum, um in einer der zahlreichen Gaststätten etwas Schatten zu finden. Es geht langsam auf den Abend zu. Doch wegen der Hitze ist noch keiner da.

Überfall auf die Bank von Tiflis

Ich bestelle Leichtkost: Khinkali. Und dann kommen auch schon die ersten Gäste. Es sind 5 Männer, die leise sprechen und leicht aufgeregt wirken. Ein Tisch ist für sie reserviert. Einer von ihnen beäugt mich hin und wieder misstrauisch, will sich dies jedoch nicht anmerken lassen.

Sein linker Arm fällt sofort auf: Das Gestikulieren fällt ihm sichtlich schwer. Seine Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. Die anderen vier hören ihm zu. Er gibt den Ton an. Seine Aura erfüllt den Raum.

Mein Essen ist da, so dass ich mich einwenig hinter dem Teller verstecken kann. Gleichzeitig lasse ich den Tag auf dem Fluß passieren.

Plötzlich holt der knapp 30-jährige Kavalier ungeschickt ein größeres Blatt Papier raus. Die anderen hören ihm gespannt zu. Es wird leiser und ich bemühe mich mit dem Geschirr Geräusche zu erzeugen. Sie und ich, ich und sie, ein Konflikt tut sich unbemerkt auf. Wenige Augenblicke später verlassen Sie den Raum. Keiner blickt mich an und doch läuft mir ein Schauder über den Rücken, denn so verhalten sich keine Gäste.

Zwei Wochen später ist die ganze Stadt in Aufruhr. Ein Geldtransport der Bank von Tiflis wird am 26. Juni 1907 brutal ausgeraubt. Es dauert nicht ein Mal drei Minuten. Rund 250.000 Rubel (Jahresapanage des russischen Zars Nikolaus II oder heute umgerechnet ca. 3,8 Mio. Dollar).

Übrig bleiben Körperteile auf der Straße, nach zahlreichen Detonationen. Überall Rauch und Frauengeschrei. Kreppierende Pferde zucken.

Noch ein Treffen

Wenige Tage später munkelt man in der Stadt, dass es wohl die Revoluzzer waren. Ein Name macht viel später die Runde: Josef Dschugaschwilli. Und ich erinnere mich plötzlich anhand der Pressebilder an unser misstrauisches Treffen Anfang Juni 1907. Auch an seinen linken Arm, der aufgrund eines Unfalls in der Kindheit und mehrerer Brüche langfristig behindert war.

Viele Jahre später werde ich als einer von vielen inzwischen unbedeutenden Zeugen von der Polizei verhört. Damals ist längst klar, dass hinter dem terroristischen Raub Lenin und sein Spezialkommando um Josef Stalin stand. Es sollte nicht unsere letzte Begegnung sein.

Es vergehen mehr als 90 Jahre. Stalin ist längst tot und ich höre von meiner Oma diese Geschichte: Es war Januar 1945, viel Schnee und eisige Kälte. Die Front zog Richtung Oder und wir zogen alle in die Felder aus Angst vor den Russen. Es hagelte Bomben, die wir auf dem Land nicht gewohnt waren. Und plötzlich: „Wo ist Anna?“. Anna war weg und wir beschlossen, dass Opa trotz Bombenangriffen zurückkehrt und wir weiter ziehen. Wenig später tauchte das 6-jährige Mädchen auf. Anna war wieder da.

Januar 2021

Stalins linker Arm war damals sehr lang und hat in der tiefsten Provinz nach unzähligen Menschenleben gegriffen. Er wollte sich rächen für meine Zeugenaussagen nach dem Banküberfall von 1907. Sein Verfolgungswahn und seine mit den Jahren und der zunehmenden Herrschaft wachsende Angst vor Gegnern haben ihn täglich bis zum Äußersten getrieben – wie so viele Diktatoren vor und nach ihm.

Meine Oma erzählt die Geschichte ihrer Schwester immer im Januar. Und sie erzählt diesen einen Satz so verwundert und lebendig, wie damals als 10-jähriges Kind, das den Schreck gerade erst erlebt: „Wo ist Anna?“

Mein Gefühl sagt mir, dass es nicht die letzte Begegnung mit Stalins linkem Arm und seinen Nachkommen ist.

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Dieser Blogbeitrag enthält die subjektive Sichtweise und Meinung von Marek Gross